Gekürzt aus der SZ vom 27.04.2015 von Gudula Wegmann:


Seit dem 22. Februar befand sich das Deutsche Kaiserreich im uneingeschränkten U-Boot-Krieg gegen die westlichen Mächte, aber auch gegen neutrale Handelsschiffe. An Bord der Noordam waren Diplomaten, Kaufleute, wegen schlechter Gesundheit zurückgewiesene Auswanderer, und Privatreisende - darunter 47 Pazifistinnen aus den USA auf dem Weg zum ersten Frauenfriedenskongress, der vom 28. April bis zum 1. Mai 1915 im niederländischen Den Haag mit mehr als 1500 Kongressteilnehmerinnen stattfinden sollte. Britischen Pazifistinnen hatte die Regierung in London die Ausreise nach Den Haag gleich ganz verwehrt. Und auch für die Teilnehmerinnen anderer Nationen war die Reise mitten im Krieg alles andere als ein Vergnügen. Die fünf belgischen Delegierten litten unter Drangsalierungen des deutschen Besatzer: Sie erreichten nach peinlichen Leibesvisitationen zu Fuß die Grenzbahnstrecke von Belgien nach Holland, dann nach weiteren Stunden Bahnfahrt verspätet Den Haag.


Unter ähnlich schwierigen Bedingungen gelangte die Sozialökonomin, Frauenrechtlerin und Pazifistin Zofia Daszyñska-Goliñska von Warschau nach Den Haag. Die meisten der 28 deutschen Teilnehmerinnen, unter Ihnen die Juristin und Frauenrechtlerin Anita Augspurg und deren sozialpolitisch engagierte Lebensgefährtin, Lida Gustava Heymann, sowie die Sexualreformerin und Publizistin Helene Stöcker, wurden schärfsten Kontrollen beim Grenzübertritt unterzogen. Die Stuttgarter Pazifistin und Frauenrechtlerin Frieda Perlen durfte das Land erst gar nicht verlassen. Die allererste approbierte Ärztin der Niederlande, Aletta Jacobs, Frauenrechtlerin und Sexualberaterin, eröffnete den Kongress am Abend des 28. April mit bewegenden Worten: "Mit klagenden Herzen stehen wir hier vereint. Wir trauern um so viele tapfere junge Männer, die ihr Leben verloren, noch bevor sie zu Männern wurden. Wir klagen mit den armen Müttern, die ihrer Söhne beraubt wurden, mit Tausenden junger Witwen und vaterlosen Kindern. In diesem zwanzigsten Jahrhundert der Zivilisation können wir nicht mehr ertragen, dass Regierungen einzig nackte Gewalt zur Lösung internationaler Konflikte tolerieren." Man hoffe, so die Ärztin, dass die gemeinsame Stimme der Frauen "bis ans Ende der Erde dringe im Protest gegen diesen fürchterlichen Massenmord".

Gerade die Leiden der weiblichen Zivilbevölkerung in den belgischen und russischpolnischen Okkupationsgebieten des Deutschen Kaiserreichs standen auf der Agenda des Kongresses an erster Stelle. So berichteten belgische Delegierte über mehr als 160.000 Flüchtlinge ihres Landes, meist Frauen und Kinder. Hintergrund der Massenfluchten waren die zahlreichen Vergewaltigungen und Verstümmelungen von Frauen und Mädchen durch deutsche Soldaten im Zuge des deutschen Überfalls auf Belgien und Nordostfrankreich im Spätsommer 1914. Zofia Daszyñska-Goliñska wiederum beklagte die Leiden der Polinnen, die unter zwei marodierenden Okkupationsarmeen zu leiden hätten. Über Vergewaltigungsexzesse sei zu berichten, über 10 000 verwüstete und 2000 niedergebrannte Dörfer. Solche Berichte ließen den Kongress in einem seiner Beschlüsse diesen Protest formulieren: "Dieser Internationale Frauenkongress protestiert gegen die Auffassung, dass Frauen unter einer modernen Kriegsführung geschützt werden können. Er protestiert aufs Entschiedenste gegen das furchtbare Unrecht, dem Frauen in Kriegszeiten ausgesetzt sind, und besonders gegen die entsetzlichen Vergewaltigungen von Frauen, welche die Begleiterscheinung jedes Krieges sind."

Zentrales Anliegen war in Den Haag vor genau 100 Jahren die dauerhafte Beendigung des Krieges und ein Frieden durch "ständige Vermittlung". Der Kongress forderte erstmals die Ächtung von systematischer Gewalt gegen Frauen als Mittel der Kriegsführung sowie eine neue friedliche Wirtschaftsordnung. In der Schlussdeklaration hieß es: "Wir erklären feierlich jeder Neigung zu Feindschaft und Rache zu widerstehen, dagegen alles Mögliche zu tun, um gegenseitiges Verständnis und guten Willen zwischen den Völkern herzustellen und für die Wiederversöhnung der Völker zu wirken. Wir erklären: Der Lehrsatz, Kriege seien nicht zu vermeiden, ist sowohl eine Verneinung der Souveränität des Verstandes, als ein Verrat der tiefsten Triebe des menschlichen Herzens." Der Kongress setzte wichtige Signale für die internationale Frauenfriedensarbeit. Man hoffte, dass es einst möglich sein würde, trotz aller Schwierigkeiten die so überaus "komplizierte moderne Welt" durch Internationalismus besser zu verstehen als durch die vielen Nationalismen, die den Krieg verursacht hätten.