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DISKUSSION aktuell:
20.7.2022 (Friedenszentrum)  - von Burkhard Jäger

»Nie wieder Krieg«

Wer sich seit einiger Zeit gehend oder fahrend durch Braunschweig (aber nicht nur dort) bewegt, könnte meinen, die Appelle und Parolen der Friedensbewegung seien endlich im Denken und Fühlen einer breiten Öffentlichkeit angekommen und trieben nun dort die trieben nun dort die schönsten Blüten: Auf Bustüren sieht man das Friedenslogo in Regenbogenfarben prangen, manche Busfahrer*innen, die ihr Gefährt nach Dienstschluss in das Depot fahren, schalten in leuchtenden Buchstaben »Nie wieder Krieg!« auf ihre Anzeigentafeln, die normalerweise auf die Fahrtziele »Amalienplatz« oder »Wolfenbüttel Bahnhof« hinweisen. In illuminierten Glasvitrinen, die sonst für irgendwelche Produkte werben, wird dieser Wunsch bisweilen blaugelb unterlegt. - Und die in dieser Weise konditionierten Zeitgenoss*innen denken sich diesen Aufruf automatisch hinzu, wenn sich großformatige elektronische Leuchttafeln auf Gebäudedächern oder auf Plätzen einfach darauf beschränken, zwei horizontale Streifen in gelb und blau zu zeigen.


Bei den geneigten Zeigenoss*innen verstärkt sich derweil der Eindruck, dass diese Friedensaufrufe sich im gleichen Maße verstetigen und verstärken, in dem eine Friedenslösung um die Ukraine in immer weitere Ferne rückt; man hat halt, was man nötig hat! - Nach der »Zeitenwende«-Rede von Olaf Scholz im Reichstagsgebäude, nach dem beschlossenen BW-»Sondervermögen« in Höhe von 100 Milliarden Euro, nach der Verzehnfachung der »Schnellen Eingreiftruppe« der NATO auf nunmehr 300 000 Soldat*innen, um einem angeblich möglichen russischen Angriff auf die baltischen NATO-Länder entgegenwirken zu können, nach dem Versprechen, das »Zweiprozentziel« nun zuverlässig zu erfüllen, sehen sich die Staatsführungen der NATO-Staaten damit konfrontiert, dass immer größere Teile der Ukraine in Schutt und Asche sinken, mittlerweile 8,8 Millionen Menschen auf der Flucht sind (UN-Angaben; Stand 12.07.). - Zwecks weiterer friedensfördernder Aktivitäten hat das US-Repräsentantenhaus kürzlich einen Rekordrüstungsetat von mehr als 800 Milliarden Dollar verabschiedet; dem Senat ist das allerdings immer noch nicht genug.

Derzeit sieht es nicht danach aus, dass die seit dem 24.02. um sich greifende Kriegsdynamik ihr Eskalationspotenzial schon voll entfaltet hat. - Im Gegenteil! Seit Mai steht die Erklärung der G7-Außenminister*innen im Raum, die deutlich machen, die G7 werde ihre » ... Unterstützung für die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine - einschließlich der Krim (sic!) - ... aufrechterhalten.«

Notfalls wolle man den ukrainischen Streitkräften noch jahrelang Waffen und andere militärische Ausrüstung liefern. - Heißt im Klartext: Das von Selensky (schon vor dem 24.02.) vollmundig verkündete Ziel, diese Halbinsel mit dem Kriegshafen Sewastopol ins »Kiewer Reich« zurückzuholen (anders als mit Gewalt dürfte das wohl kaum möglich sein) soll durch flankierende politische, wirtschaftliche und militärische Unterstützung abgestützt werden. - Die derzeit in größerem Umfang zum Einsatz kommenden westlichen Raketenwerfersysteme Himar und M270 sollen wohl ein erster Schritt auf diesem Wege sein. (Deutschland möchte hier natürlich auch nicht zurückstehen und liefert demnächst »Mars II«, die Ausbildung des ukrainischen Fachpersonals läuft derzeit). -

Sollten diese Waffensysteme sowie die (allerdings nicht dem neuesten Stand entsprechenden) gepanzerten Fahrzeuge und Artillerie nicht den gewünschten Erfolg bringen, wird man wohl den »nächsten Schluck aus der Pulle nehmen« müssen oder aber die Ukraine (der russischen Forderung entsprechend) in die Neutralität zwischen den NATO-Machtzentren einer-, Moskau andererseits entlassen müssen. -

Die letztere Variante erscheint mit Blick auf die innenpolitischen Verhältnisse in der Ukraine sowie der derzeitigen Interessenlage Washingtons nicht realistisch.

Hier dominieren die objektiv - in mehrfacher Hinsicht - Katastrophenpolitik betreibenden Fraktionen im westlichen Lager. Aus ihrer Sicht bietet sich die einmalige Chance, Russland nachhaltig militärisch und ökonomisch zu schwächen; Washington, weil man bei der geplanten finalen Auseinandersetzung mit der VR China in Europa »den Rücken frei« haben möchte und Russland als potenziellen Alliierten der VR China soweit wie möglich geschwächt sehen möchte, Deutschland (das sich selbst als ökonomische und damit auch politische Vormacht in Europa sieht), weil ein entsprechend in die Schranken gewiesenes Russland als Konkurrent Deutschlands bei der weiteren Ausgestaltung der deutschen Hegemonie in Mittelosteuropa wegfällt. (Manche Politiker der »Ampelparteien« lassen hier schon alle Zurückhaltung fahren. Der SPD-Parteichef Klingbeil Mitte Juni: »Deutschland muss den Anspruch einer Führungsmacht haben!«)

Das sind natürlich gefährliche »Milchmädchenrechnungen«, aber die einen solchen Kurs favorisierenden Fraktionen des »Westens« sind die derzeit bestimmenden; und nicht erst seit dem 24.02. (also dem Zeitpunkt des russischen Angriffs auf die Ukraine). - Man kann es nicht oft genug betonen: Die planvoll seit 1999 nach Osten »marschierende« NATO, die Stationierung von Raketensystemen in Osteuropa, die Aufkündigung aller relevanten Abrüstungsabkommen, das trotz russischen Drängens nicht umgesetzte Minsk II-Abkommen, die schon vor dem 24.02. systematisch erfolgende Aufrüstung der Ukraine als Vorposten gegen Russland seit dem Maidan-Putsch von 2014 mit der Perspektive eines NATO-Beitritts ... bilden - aus russischer Sicht - eine Kette von Provokationen. Und unter diesem Gesichtspunkt ist - wiederum aus russischer Sicht - der Einmarsch in die Urkraine ein Präventivkrieg, um eine irreversible Verschiebung der Gewichte zuungunsten Russlands zu verhindern; gleichzeitig, um allen eventuell sezessionswilligen Kräften in Russland selbst zu zeigen »wo der Hammer hängt«. -

Für die Erreichung dieses Ziels wird der russischen Staatsführung kaum ein Preis zu hoch sein, wie die letzten Dumagesetze zur möglichen kriegswirtschaftlichen Formierung Russlands zeigen.

Die den »westlichen« Kurs bestimmenden Interessengruppen waren in der Vergangenheit entweder gefährlich ignorant, haben diese Entwicklung sehenden Auges in Kauf genommen oder aber haben zynisch auf eine solche Dynamik spekuliert. - Allen gemeinsam war und ist allerdings das Ignorieren elementarer russischer Interessen speziell in Ostmitteleuropa. - Die von Seiten der EU- und NATO-Staaten teilweise vollmundig praktizierte Friedens-, Demokratie-, Souveränitäts- und Menschenrechtsrhetorik ist unglaubwürdig spätestens seit dem völkerrechtswidrigen Überfall auf Serbien, und auch der Beifall für Jelzin, der 1993 das russische Parlament zusammenschießen ließ, als es seinen neoliberalen Kurs nicht mittragen wollte, zeigt, wie solche Proklamationen einzuschätzen sind: Als pure Propaganda nämlich! (Von den einschlägigen Verbrechen und Aggressionen der NATO-Vormacht auch in jüngster und jüngerer Vergangenheit soll hier gar nicht weiter gehandelt werden).

Die weiteren Perspektiven der nun eingetretenen Entwicklung sind leider als düster einzuschätzen: Wir haben nicht nur einen rüstungs- und friedenspolitischen Super-GAU zu beklagen, sondern es steht uns aus den bekannten Gründen auch ein energiepolitischer ins Haus (die Einzelheiten sollen hier nicht näher ausgeführt werden; dies bleibt einem weiteren Homepagetext vorbehalten), der mit hoher Wahrscheinlichkeit eine massive Verschärfung aller ökonomischen, sozialen und damit auch politischen Widersprüche zur Folge haben wird. - Es wird für diejenigen, die darunter zu leiden haben werden, wohl kaum eine Relevanz haben, dass Annalena Baerbock mit der von ihr sehr beifällig begleiteten und mitgestalteten Sanktionspolitik Russland »ruinieren« möchte. (Die möglichen Folgen eines solchen Ruins hat sie - wie auch die sonstigen Protagonisten - wohl nicht mitbedacht; oder doch?). -




Zusammenfassung


Wir erleben - wie Olaf Scholz so treffend bemerkt hat - in der Tat eine »Zeitenwende«. - Zu erwartende Verwerfungen und damit zusammenhängende Desintegrationstendenzen in der »westlichen« Welt kombinieren sich mit einer Neuordnung internationaler Konstellationen. Außerhalb der im engeren Einflussbereich der USA liegenden Staaten trägt kaum jemand den Kurs gegen Russland mit; insbesondere auch nicht die VR China, Indien sowie die sonstigen BRICS-Staaten (demnächst um Argentinien verstärkt), ebensowenig die arabischen Staaten ... Man erinnert sich im »Rest der Welt« noch zu gut an die Ausbeutungspraktiken der ehemaligen Kolonialmächte, zu gut auch an das Agieren der USA auf der internationalen Bühne, um ihnen plötzlich gewandelte Interessen zuzubilligen. - Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis Russland, die VR China, Indien ... ihr seit langem schon geplantes internationales Zahlungssystem (das den SWIFT überflüssig machen wird) zur »Marktreife« entwickelt haben werden. - Die Folgen für den Dollar als international relevantes Zahlungsmittel lassen sich absehen. - Wie werden die USA auf den Verlust ihrer ökonomischen, weltpolitischen und auch militärischen Weltgeltung reagieren?

Burkhard Jäger