(von Burkhard Jäger) - Um Trends und Entwicklungen zu verdeutlichen, ist es bisweilen hilfreich, sich Chronologien zeitgerafft vorzustellen: Wer hätte vor drei Wochen geahnt, dass die Menschen in Deutschland in ihrer Bewegungsfreiheit, ihren Kommunikationsmöglichkeiten … derart massiven Einschränkungen unterworfen werden würden? - Um nicht missverstanden zu werden: Es geht hier nicht darum, die Bedrohung durch den Coronavirus zu relativieren. - Es geht aber sehr wohl darum, sich die Mechanismen des Krisenmanagements ein wenig genauer anzuschauen. Im Folgenden soll der Stellenwert der wahrscheinlichen und möglichen  Entwicklungen als Herausforderung auch an die Friedensbewegung dargestellt werden.

Auf eine ins Einzelne gehende Bestandsaufnahme der bis dato von den verschiedenen Exekutiven erlassenen Maßnahmen- und Sanktionskataloge kann hier verzichtet werden. - Jede/r, die/der diese Zeilen liest, kennt die Einschränkungen, denen die Bundesbürger*innen – in den in kurzen Abständen immer wieder verschärften Versionen – unterworfen sind.

Es sind allerdings Fragen zu stellen, die möglicherweise erhellend wirken könnten: Die Verschärfung der den Bundesbürger*innen seit dem 13. 03. zugemuteten Regelungen erfolgte in Rhythmen die mit dem erwartbaren Bedrohungsszenario zunächst nicht korrespondierten. Heißt konkret: Dass man am 16. 03. Novellierungen verkündete, die drei Tage vorher noch für überzogen gehalten wurden, ist rational nicht nachvollziehbar. - Denn: Laut Robert-Koch-Institut dauert es zwölf Tage, bis man den Erfolg solcher Maßnahmen einschätzen kann. - Das spricht dafür, dass man grundgesetzlich zumindest fragwürdige Vorgaben schon präventiv, das heißt: auf Verdacht gemacht hat. - Die Coronakrise wirkt hier wie ein Kontrastmittel, das die Logik exekutiven Handelns in einer als existenziell empfundenen Krise deutlich macht. -  Welche Reaktionen hätte man von den ausführenden Organen dieses Staates in anders gearteten an die „Substanz des Staatswesens“ gehenden Krisen zu erwarten? Etwa im Falle „innerer Unruhen“, die in Folge der derzeitigen Entwicklungen ja auch durchaus möglich scheinen. Oder einer nachhaltigen Infragestellung der herrschenden Gesellschaftsordnung, die als Konsequenz der zu erwartenden massiven ökonomischen Verwerfungen nicht ganz unwahrscheinlich ist?

Es ist nicht ganz abwegig, sich vorzustellen, dass man dann nicht die Regelungen des Infektionsschutzgesetzes heranziehen wird, sondern die des 1968 erlassenen Notstandsgesetzes. Dieses ermächtigt die Bundesregierung, Polizeikräfte für die Niederschlagung eines Aufstandes oder innerer Unruhen anzufordern (Ergänzung des Artikels 91 GG). - Der damalige Innenminister Schröder nannte dies die „Stunde der Exekutive“. Wem diese Befürchtungen als überzogen erscheinen, mag sich daran erinnern, dass sich die Bundesrepublik in ihrer Geschichte noch nie einer derartigen Herausforderung gegenüber gesehen hat. -  Denn eines ist schon heute klar: Am Ende dieser Krise werden Menschenleben zu beklagen sein, ebenso auch enorme volkswirtschaftliche Einbußen. - Das Potenzial für eine radikale Infragestellung aller „Gewissheiten“ scheint am Horizont auf.

Die Friedensbewegung wird sich hierzu positionieren müssen!

Eine weitere Dimension ist die mögliche Auswirkung von Covid 19 auf die mentale Verfassung eines gewichtigen Teils der Gesellschaft. Risikoforscher erklären: Bei einem Teil der Bevölkerung werden die Ressentiments wachsen; es werden Ersatzobjekte der Aggression gesucht. Etwa:

Menschen aus dem asiatischen Raum. - Gleichzeitig wachse die Sehnsucht nach dem „starken Staat“, nach „leadership“, die krisenhafte Entwicklungen entschlossen und zupackend bekämpfe. Eine in Kombination mit den o. a. Tendenzen beunruhigende Perspektive!

Eine wichtige friedenspolitische Relevanz hat die Aufhebung politischer und ökonomischer Barrieren zwischen den Nationen. Auch auf diesem Sektor schwingt das Pendel jetzt wieder zurück: Grenzen werden partiell dicht gemacht, Grenzkontrollen wieder eingeführt … Es ist nicht absehbar, wie lange diese Situation anhalten wird. - Absehbar ist allerdings, dass die Bereitschaft der Menschen u. a. in Deutschland, Frankreich, Polen … zu einem weiteren Abbau eines Denkens in nationalen Egoismen nicht geringer werden wird – vorsichtig ausgedrückt!. - Nebenbei: Von den  auf griechischen Inseln gestrandeten Flüchtlingen ist heute erst recht keine Rede mehr.

Die vielen sonstigen Ausprägungen der Krise können hier nicht beleuchtet werden. Die auf die Friedensbewegung zukommenden Herausforderungen liegen auf der Hand : Sie wird sich, wenn alles „überstanden“ ist, aller Voraussicht nach mit einem „anderen Land“ konfrontiert sehen; einer Gesellschaft, die sozial und ökonomisch noch stärker polarisiert sein wird. - Wahrscheinlich auch mit einem Staatswesen, in dem mittelfristig die Bereitschaft der Exekutive zu autoritären „Lösungen“ zur Stabilisierung des gesellschaftlichen und ökonomischen Status quo zunehmen wird.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass „interessierte Kreise“ die derzeit offensichtlich werdenden Möglichkeiten aufmerksam studieren werden.

Manche werden dennoch fragen: Was hat das mit der Friedensbewegung zu tun? - Die Forderung nach Frieden (nach innen und außen) ist eine nach wie vor uneingelöste. Sie hat – in ihrer Zielsetzung, in dieser Welt einen dauernden und nachhaltigen Frieden zwischen Menschen und Nationen zu schaffen – einen per se utopischen Charakter. Sie wird deshalb - nicht zuletzt vor dem Hintergrund der jetzt zu machenden Erfahrungen – ihre friedenstheoretischen Instrumentarien weiter schärfen müssen.

Burkhard Jäger - 23.3.2020